LINGNAN ist der Sammelbegriff für die Gebiete südlich der fünf Berg-ketten Dayu, Qitian, Dupang, Mengzhu und Yuecheng. Hier hat sich eine Gartenbaukunst entwickelt, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie sich nach Nützlichkeit orientiert und zugleich Elemente aus anderen Baustilen aufnimmt.
Die Provinz Guangdong ist die Wiege der Gartenbaukunst in Lingnan. In alter Zeit unterteilten sich die Gärten in zwei Kategorien, nämlich in Privatgärten und in öffentliche Gärten, die landschaftliche Sehenswürdigkeiten einbezogen. In neuerer Zeit entwickelten sich aus ersteren Gärten öffentlicher Bauten und letztere zu städtischen Parks.
Lingnan liegt zu beiden Seiten des Wendekreises des Krebses, es herrscht hier subtropisches Monsunklima. Das ganze Jahr hindurch blühen Blumen. Ferner gibt es schöne Natursteine in großer Menge. Dadurch sind gute Voraussetzungen für den Bau von Gärten gegeben. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Land war es früher Sitte, Hausgärten anzulegen, oft mit einem Teich.
Die traditionelle Baukunst von Gärten und Parks in Lingnan birgt die grundlegenden Elemente des chinesischen Gartenbaustils in sich, hat aber zugleich einzigartige Merkmale bezüglich der räumlichen Gliederung, der Gebäude und der Gestaltung von Landschaften. Eine häufig angewendete Methode ist die, daß man einen Teich anlegt und Steine zu künstlichen Hügeln auftürmt. Der Teich wird mit Blumen und Bäumen umgeben. Hinzu werden der räumlichen Gliederung entsprechend Pavillons, Wandelgänge, Brücken und Tore gebaut. Um die Wirkung zu erzielen, daß ein kleines Bauwerk wie ein großes wirkt, wird der Maßstab der Hügel, Teiche, Pavillons, Brücken und Wege verkleinert. Und um die Perspektive des Gartens zu vertiefen, werden den Blick teilweise versperrende Bauelemente wie dekorierte Tore und mit Schnitzereien versehende Fenster eingesetzt, und hinzu kommen gewundene Pfade, die den Eindruck langer Wege vermitteln. Die räumliche Komposition ist abwechslungsreich, der Übergang von künstlich geschaffenen Landschaften zu den Bauelementen ist harmonisch.
Im Vergleich zu den kaiserlichen Gärten und Parkanlagen in Beijing oder zu den Privatgärten in den Gebieten südlich des Yangtse haben die Gärten und Parks in traditionellem Baustil in Lingnan, abgesehen von den an Bergen oder Seen angelegten Parks, einen kleineren Umfang. Ein größerer Park ist drei bis fünf Mu groß (ein Mu = 1/15 Hektar), ein kleinerer mißt nur einige Dutzend Quadratmeter.
Bei der Gestaltung eines Gartens wird häufig mit Hilfe der einem Gedicht entlehnten Bezeichnung der Sinngehalt auf den Punkt gebracht. Die im Jahr 1871 erbaute ,,Studierstube Yuyin“ beispielsweise ist wegen der Fülle ihrer dichterischen Assoziationen einer der berühmtesten Gärten in Lingnan. Auf einer Fläche von nur drei Mu sind hier Hallen zum Malen, Lauben, Pavillons, Brücken und künstliche Hügel sowie ein Teich, und alles ist so komponiert, daß man in einem kleinen Bauwerk ein großes erblickt und der flache Teich tief wirkt. So sind Tiefe, Breite und Höhe in den Garten aufgenommen: raffiniert herbeigeführte optische Täuschungen. Eine überdachte Brücke verbindet den östlichen und westlichen Teil des Gartens. In der Mitte der Brücke ragt ein Pavillon mit vier Dachschwingungen empor. Bei den Bauwerken und Pflanzen ergänzen das Wirkliche und die Leere einander. Mit Hilfe von dichterischen Bezeichnungen und literarischen Anspielungen wird ein ästhetischer Effekt erzielt, so daß man im Kleinen das Große und im Statischen das Dynamische sieht.
Der Laixun-Pavillon der ,,Studierstube Yuyin“
Im Garten Keyuan in Dongwan
Der Wandelgang in der ,,Studierstube Yuyin“ in Panyu ist von klassischer Schönheit
Der quadratische Teich mit Pavillon im Garten Qinghui in Shunde
Der Löwen-Hügel im Garten Liangyuan in Foshan
Landschaft im Park Yuehui
Gartenanlage mit Teich des Hotels Zhuhai Fotos: Li Min
In den Gärten und Parks in Lingnan werden in großer Menge Keramik, Plastiken aus Kalk, Schnitzereien aus Holz und Ziegelstein und volkstümliche kunstgewerbliche Gegenstände verwendet. Türen und Fenster der Gebäude und in Mauern sind mit großer Sorgfalt geschnitzt, die bunten Fensterscheiben zeigen verschiedene Muster. Die räumliche Gliederung und bestimmte Bauelemente sind aber auch von der westlichen Architektur beeinflußt. So sieht man Bogentüren und Bogenfenster in römischem Baustil und barocke Kapitelle. So besteht eine Besonderheit der Kultur in Lingnan auch darin, daß sie in gewisser Weise westliche mit chinesischer Kultur verbindet.
Die Gartenkunst in Lingnan unterliegt anders als kaiserliche Garten- und Parkanlagen im Norden keiner altüberlieferten Konvention, und im Gegensatz zu den Gärten von Literaten in den Gebieten südlich des Yangtse hält sie sich auch nicht an strenge Regeln. Man paßt sich an die wechselnden Gegebenheiten an. Bei den verschiedenen Bauwerken wird nach Nützlichkeit und Effekt gestrebt. In alter Zeit nahmen die Gartenbaumeister in Lingnan Elemente und konzeptionelle Ideen aus der nordchinesischen, südchinesischen und ausländischen Kultur auf und variierten sie. Sie arbeiteten nicht nach einer Schablone, so daß die räumliche Komposition eines Gartens in gewissem Sinne beliebig war. Als Beispiel sei der Garten Keyuan in Dongwan angeführt. Dieser Garten liegt am See Ke, er hat die Form eines unregelmäßigen Polygons und ist 2204 qm groß. Die Pfade haben eine gewundene Form. Im mittleren Teil des Gartens befinden sich künstliche Hügel und Teiche. Die räumliche Gliederung folgt keinerlei Gesetzmäßigkeiten. Um die Landschaft außerhalb des Gartens einzubeziehen, hat man einen 15,6 m hohen Pavillon gebaut. Von dort aus kann man den See überblikken und Berge sehen.
Auch heute sind Leute in Lingnan ausgesprochene Gartenliebhaber, und die Gestaltung künstlicher Landschaften unter Verwendung allerlei Gesteins ist nach wie vor eine ihrer Spezialitäten.
Pavillon am Teich im Botanischen Garten in Guangzhou Foto: Li Min